Pelzmäntel für Hartz IV-Empfänger

Das Bundesverfassungsgericht hat wieder zugeschlagen! Die deutschen Regierungen haben sich daran gewöhnt, nicht nur die andere Wange hinzuhalten.

Das BVerfG hat festgestellt: Regelleistungen nach SGB II („Hartz IV- Gesetz“) sind nicht verfassungsgemäß (Urteil vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 –)

Das Urteil löst – wohl nicht nur bei mir – blankes Entsetzen aus. Für eine endgültige Bewertung ist es noch zu früh, die Urteilsgründe müssen sorgfältig studiert werden. Klar ist aber schon nach flüchtigem Lesen: Das Gericht ohrfeigt den Gesetzgeber. Mit der geballten Faust. Und wirft ihm dilletantische Arbeit vor.

Der in § 2 Abs. 2 Regelsatzverordnung 2005 festgesetzte regelsatz- und damit zugleich regelleistungsrelevante Verbrauch beruht nicht auf einer tragfähigen Auswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 1998. Denn bei einzelnen Ausgabepositionen wurden prozentuale Abschläge für nicht regelleistungsrelevante Güter und Dienstleistungen (zum Beispiel Pelze, Maßkleidung und Segelflugzeuge) vorgenommen, ohne dass feststand, ob die Vergleichsgruppe (unterstes Quintil) überhaupt solche Ausgaben getätigt hat.

Da wurden die statistisch relevanten Ausgaben für Pelze, Maßkleidung und Segelflugzeuge der „Besserverdienenden“ bei den untersten Einkommensschichten abgezogen. Ich kann es nicht glauben! Ich will es nicht glauben!

Es geht weiter so:

Andere Ausgabepositionen, zum Beispiel die Abteilung 10 (Bildungswesen), blieben völlig unberücksichtigt, ohne dass dies begründet worden wäre.

Noch mehr Fremdschämen?:

Der Gesetzgeber hat jegliche Ermittlungen zum spezifischen Bedarf eines Kindes, der sich im Unterschied zum Bedarf eines Erwachsenen an kindlichen Entwicklungsphasen und einer kindgerechten Persönlichkeitsentfaltung auszurichten hat, unterlassen. Sein vorgenommener Abschlag von 40 % gegenüber der Regelleistung für einen Alleinstehenden beruht auf einer freihändigen Setzung ohne empirische und methodische Fundierung. Insbesondere blieben die notwendigen Aufwendungen für Schulbücher, Schulhefte, Taschenrechner etc. unberücksichtigt, die zum existentiellen Bedarf eines Kindes gehören. Denn ohne Deckung dieser Kosten droht hilfebedürftigen Kindern der Ausschluss von Lebenschancen. Auch fehlt eine differenzierte Untersuchung des Bedarfs von kleineren und größeren Kindern.

Mein GOTT, ist mir das peinlich. Ich schäme mich. Ich kann mich nicht erinnern, jemals solch deutliche Mißbilligung in einer Entscheidung des BVerfG gelesen zu haben. Der Gesetzgeber hat nur wenig Zeit für eine Neuregelung:

9. Die verfassungswidrigen Normen bleiben bis zu einer Neuregelung, die der Gesetzgeber bis zum 31. Dezember 2010 zu treffen hat, weiterhin anwendbar. Wegen des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums ist das Bundesverfassungsgericht nicht befugt, aufgrund eigener Einschätzungen und Wertungen gestaltend selbst einen bestimmten Leistungsbetrag festzusetzen. Da nicht festgestellt werden kann, dass die gesetzlich festgesetzten Regelleistungsbeträge evident unzureichend sind, ist der Gesetzgeber nicht unmittelbar von Verfassungs wegen verpflichtet, höhere Leistungen festzusetzen. Er muss vielmehr ein Verfahren zur realitäts- und bedarfsgerechten Ermittlung der zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums notwendigen Leistungen entsprechend den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Vorgaben durchführen und dessen Ergebnis im Gesetz als Leistungsanspruch verankern.

Die Zitate sind der Pressemitteilung Nr. 5/2010 vom 9. Februar 2010 entnommen.

10 Kommentare
  1. AndyM
    AndyM sagte:

    Hartz IV reicht wohl eher nur für einen gebrauchten Pelzmantel und dann muss bis zum Monatsende gefasstet werden. Eine mutige Entscheidung des BVerfG.

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  2. Maruda
    Maruda sagte:

    Hallo,

    könnten Sie bitte Ihre Kritik an dem Urteil bitte etwas genauer ausdrücken? Der Artikel in seiner bisherigen Form hat mich doch mehr verwirrt als Ihre Argumente aufgezeigt..

    MfG

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  3. Leon R.
    Leon R. sagte:

    Ihre „Auseinandersetzung“ mit dem heutigen Urteil macht mich sehr tief betroffen.

    Zum einen fühle ich mich als Hilfeempfänger wieder mal gedemütigt durch Menschen, dessen berufliches Standing ein Gefühl für 360 Euro im Monat nicht nachvollziehbar machen kann, zum anderen ist das Urteil Ausdruck unserer Gesellschaftskultur, die immer Schlupflöcher für die offenhält, denen präkäre Situationen bis an ihr Lebensende fremd sein werden.

    Statt sich in der Außenwirkung pseudosatirisch über das Urteilsergebnis zu äußern und damit unterschwellig die Hilfeempfänger abzuwerten hätte ich gern von Ihrer Seite einen Kommentar gesehen, dass dieses Urteil trotz juristischer Wortvielfalt im Grunde genommen windelweiche Angebote an die Regierung sind, dem Kind einen anders formulierten Unterbau zu geben, der im Ergebnis monetär frei von Veränderungen sein darf, sein wird.

    Kurz in Volkes Stimme: Juristisch verbrämte Vera….ung derjenigen, die sich nicht wehren können. Oder: eine Krähe hackt der anderen nicht das Auge aus, denn man sieht sich im Leben immer zweimal – spätestens bei einem Empfang derjenigen, die sich vom Pöbel so wohltuend unterschieden fühlen.

    Wohlgemerkt: Volkes Stimme. Menschen, die den Weg nicht in Ihr Blog finden, um sich zu äußern. Die Repressalien fürchten.

    Sie sind als Anwalt in einer gesellschaftlichen Position, wo Ihnen Mittel, Netzwerk und Kräfte zur Verfügung stehen, die gegebene Einstellung zum Sozialstaat in Richtig Sozial im Sinne des Grundgesetzes zu lenken. Doch Sie müssen das auch wollen…

    Freundliche Grüße
    Leon R.

    P.S.: Es geht nicht um juristische Ergebnisse, es geht um Menschen! Urteile haben kein Schmerzvermögen, und Rechthaben sättigt nicht.

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  4. RA Jede
    RA Jede sagte:

    Wie sehr doch die Wahrnehmung, auch des geschriebenen Wortes, von den Vorurteilen abhängt.

    Der Beitrag ist keine Urteilsschälte, keine Urteilskritik. Man wird die Gründe sorgfältig lesen müssen.

    Zitiert habe ich tatsächliche Feststellungen des Gerichtes. Ich unterstelle grundsätzlich dem BVerfG, daß diese zutreffen. Im übrigen sind die Fakten nachprüfbar.

    Das Urteil ist ein Skandal. Es ist ein Skandal im wahrsten Sinne des Wortes, daß das BVerfG dem Gesetzgeber derartige Vorwürfe machen muß! Der Gesetzgeber hat in einem bisher nicht bekannten Ausmaß versagt. In existentiellen Fragen.

    Über einen ehemaligen Berliner Innensenator sind diese Leute hergefallen, der vorgerechnet hat, daß die für die Verpflegung vorgesehenen Mittel ausreichen. Ich habe diese Vorwürfe nie verstanden, das war seine Pflicht. Der Bundesgesetzgeber hat nicht einmal gerechnet. Er weiß nicht wieviel ein Schulkind benötigt und setzt kurzerhand 100€ pro Jahr für Schuldbedarf an. Ich halte das für kriminell. So darf man nicht mit Menschen umgehen. Künftig werde ich Lokale verlassen, in denen sich ein Abgeordneter aufhält.

    Und um mir hier den Ärger noch weiter zuzuziehen: Ich habe andererseits kein Verständnis dafür, daß alte Menschen sich wegen des Glatteises zu recht nicht mehr auf die Straße trauen dürfen, während gesunde Menschen von der Allgemeinheit alimentiert werden und zu Hause sitzen, anstatt das Eis zu beseitigen. Auch der in Not geratene Anwalt kann für die Nachbarn Eis hacken.

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  5. Kand.in.Sky
    Kand.in.Sky sagte:

    „während gesunde Menschen von der Allgemeinheit alimentiert werden und zu Hause sitzen,“
    Was schlagen Sie als Alternativen vor?

    „anstatt das Eis zu beseitigen. Auch der in Not geratene Anwalt kann für die Nachbarn Eis hacken“
    und Haftungsfragen beantwortet der RA sehr gern dann.

    Ansonsten: Regelsätze wurden 2005 festgesetzt mit den Daten von 1998.
    Wer sind hier eigentlich die Deppen? Die Deppen „da oben“ oder die Deppen die diese immer wieder wählen?
    Nicht zu fassen!

    Diätenerhöhung geht aber meist schnell und flink von statten. Oder Subventionen für schwarze Löcher (Banken, Stromindustrie).

    #k.

    Antworten
  6. Andreas Schulze
    Andreas Schulze sagte:

    Ich bin mal wieder stolz auf unser BVerfG!

    Der ohne Bedarfsermittlung erfolgten Bemessung der Regelsätze war die Verfassungswidrigkeit auf die Stirn geschrieben. Das wußte jeder, der sich auch nur ein paar Minuten Gedanken über die ALG II- Regelungen machte, schon vor Jahren. Das Urteil ist in seiner Klarheit und Ehrlichkeit dennoch eine Überraschung.

    Was eine Bedarfsermittlung aber nun ergeben wird, ist eine ganz andere Frage.

    Ich bin auch gegen Zwangsarbeit bzw. „Reichsarbeitsdienst“ für ALG-II-Empfänger, es sei denn, das Schneeschippen erfolgte im Rahmen regulärer Arbeitsverhältnisse.

    Und ich bin auch froh, dass der frühere unsägliche Berliner Finanzsenator nichts mehr zu melden hat, ein Geschöpf, das einem Angst bereitete und dem man fast bei jedem seiner verbalen Auswürfe anmerkte, dass er wahrscheinlich nie geliebt worden war.

    A.S.

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    • RA Jede
      RA Jede sagte:

      Nun, Zwangsarbeit und Reichsarbeitsdienst ist schön plakativ aber nichtssagend. Wohl kaum jemand ist bereit, die ALG-II-Zahlungen als Geschenke zu definieren. Nach meinem Verständnis erfordert die Leistung der ALG-II-Zahlungen Gegenleistungen: Geld für Leistung. In unserer Gesellschaft gibt es unzählige Aufgaben, die der Erledigung harren. Das mag das Eis auf den Straßen sein, Kindern Nachhilfe zu gewähren oder auch nur für die Nachbarkinder da zu sein. Der alten Oma, die kaum noch laufen kann, die Einkäufe zu erledigen und sich dann beschimpfen zu lassen, weil sie nicht richtig erledigt wurden, und und und.

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  7. Andreas Schulze
    Andreas Schulze sagte:

    Das hat aber nichts mit ALG II zu tun, das von einer Gegenleistung in dem Sinne eben gerade nicht abhängt. Der Begriff Geschenk ist auch reichlich plakativ. Der Nachweis von zusätzlichen Beschäftungsmöglichkeiten z.B. bei der BSR oder privaten Winterdienstunternehmen zum Winterdienst, z.B. an den Ganztagsschulen zum Nachhilfe- öder Förderunterricht und von pädagogisch geeigneten Tagesmüttern oder Kinderfrauen (Kinder gehören nicht in jedermanns Hand!) oder als Einkaufshilfe geht in Ordnung. Deren Ausschlagung führte dann zu den bestehenden Sanktionsmöglichkeiten (Herabsetzung des Regelsatzes an ALG II).

    ALG II ist eben kein Geschenk an Arbeitslose, sondern Ausdruck des Sozialstaatsprinzips in der sozialen Marktwirtschaft, nämlich dass derjenige, der keinen Arbeitsplatz finden kann, in seiner Existenz dennoch abgesichert ist.

    Nur wenn man das nicht berücksichtigt oder nicht berücksichtigen will, kommt man auf die vorbenannten aberwitzigen Ideen.

    Eine andere Frage ist es, ob es Spaß macht, die öffentliche Ordnung in Deutschland umzukrempeln und das Sozialstaatsprinzip aus dem Grundgesetz zu streichen. Dann ist Reichsarbeitsdienst und Zwangsarbeit wieder möglich.

    A.S.

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  8. Sabrina S.
    Sabrina S. sagte:

    Hallo,

    Wir, die Interessengemeinschaft Sozialrecht e.V. IG, haben vor kurzem unsere umfangreiche Ratgeberseite zum Thema Hartz IV veröffentlicht. Hier finden interessierte Bürgerinnen und Bürger unter anderem wichtige Informationen zum Hartz IV- Regelsatz, Wohnung & Miete, Alltagstipps, Hartz IV- Erhöhung 2017, uvm.

    Hier geht es zur Ratgeberseite: http://www.hartz4hilfthartz4.de/

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